Unzeit
Eine Mut-mach-Geschichte
© Ulrike Engel
Wilhelm goss gerade die Pflänzchen in seinem Garten als er merkte, dass etwas nicht stimmte. Seine Sonnenblume ließ die Blätter hängen - etwas hatte ihr den goldgelben Glanz genommen, das satte Sonnengelb. Er spürte den kalten Ostwind, den es sonst niemals in diese Gegend verschlug. Das Grau des Nebels lag wie Schimmel über den Wolken. Es war so, als würde sich die Erde ein ganz klein wenig drehen und dann wieder anhalten. Als er wieder ins Haus trat, war nichts wie vorher. Der Laminatboden knirschte morsch, die Kuckucksuhr wollte die Zeit einhalten. Das Vögelchen öffnete den Schnabel, doch kein Laut drang heraus. Er trat vor den Spiegel im Bad und erschrak abermals. Er konnte sich nicht erkennen. Der da vor ihm stand, war ein Fremder. Als er wieder nach draußen gehen wollte, war die Tür verschlossen. Tränen stiegen in ihm auf, doch seine Augen vermochten nicht den heilenden See freizugeben. Völlig erschöpft legte er seinen ihm nicht mehr gehörenden Körper schlafen. Kaum hatte er die Augen geschlossen, drang eine Stimme an sein Ohr. "Steig hinab!" sagte sie. Dann wurde es Schwarz um Wilhelm. Die dunkle Farbe legte sich wie ein schwerer Brokatvorhang über ihn.
Langsam nahm er Konturen wahr, er sah eine Öffnung mitten in dem schwarzen Kreis, zu dem sich der Vorhang zusammengezogen hatte. "Du hast vergessen, ein Zimmer einzurichten!" sagte die Stimme nun. "Das hier scheint eine Dunkelkammer zu sein." Wilhelm wollte sich abwenden und wälzte sich unruhig im Schlaf hin und her. "Du musst sie mit Leben erfüllen! Gestalte sie!" Deine Blumen bekommen keine Kraft mehr. Du hast den Zugang gesperrt!" "Aber was kann ich tun?" fragte Wilhelm voller Schmerz. "Wenn du das Zimmer so eingerichtet hast, dass es in neuem Licht erstrahlt, wirst du dich wiedererkennen!" antwortete die Stimme ".Ab sofort werde ich mit dir Kontakt über dieses schwarze Sprachrohr halten." Wilhelm hatte fürchterliche Angst, dies nicht zu schaffen. "Das wirst Du!" sagte da die Stimme wieder. Stelle die Last einfach wie 10 kg Mehl neben dein Bett!" Wilhelm vernahm ein Vogelzwitschern. "Riechst du den Frühling, Wilhelm?" "Erinnere dich an ihn. Wie hat sich die Sonne auf deiner Haut angefühlt?" Wilhelm glaubte den leicht vanilligen Duft zu riechen. Und er glaubte das Streicheln eines lauen Windes zu fühlen. Das besänftigte ihn. "Was ist deine Lieblingsfarbe? Du musst mit dem Streichen beginnen!" Wilhelm sieht ein paar Möbelstücke vor sich stehen, Rohlinge noch. "Schleife sie! Zähme sie!" sagte die Stimme. Und Wilhelm gehorchte. Seine Finger glitten über das ebene Holz.
Er roch die frischen Möbelspäne. Intensiver als sonst. Und heller wurde es auch draußen. So wie auf dem Spielplatz in Kindertagen zu Sommeranfang, wenn man das erste Eis bekommt. Gierig nahm das Holz das warme Orange auf. "Aber in deinem Zimmer ist noch kein Leben!" mahnte die Stimme. "Schaffe dein Umfeld neu! Und jetzt folge mir durch den Tunnel!" Als Wilhelm durch die schwarze Öffnung trat, traf er dort auf andere Menschen, die ihn sogleich an ihren Tisch luden. Der eine bastelte Marionetten. "Das macht die Kinder glücklich und lenkt ab von der Wehmut der Welt!" sagte er. Der Zweite befasste sich mit lebenden Steinen. Der Dritte bastelte an einer Puppenstube. "Dies ist kein Ort der Verbannung..." sagte der Eine. Er hatte wache Augen und ein spitzbübisches Grinsen. "Erst wenn wir alle Aufgaben erkannt haben in unserem Leben und sie vollendet sind, dürfen wir gehen. Jetzt ist noch keine Zeit dafür, denn sonst wären wir nicht hier." Das beruhigte Wilhelm ein bisschen. So lange er etwas zu tun hatte, brauchte ihn das Leben noch. Die kranke Blume, die verschlossene Tür und der erstarrte Kuckuck hatten ihn sehr erschreckt. Wilhelm atmete jetzt gleichmäßiger im Schlaf. Der mit den lebenden Steinen nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit zu einem Volkstanzabend, wo er auch gleich in den Kreis aufgenommen wurde. Schwermütige russische Folklore, englische und quirlige irische wechselten einander ab. Wilhelm war richtig außer Puste und fühlte sich vom Leben inspiriert wie selten zuvor. In der Pause tranken alle zusammen Yogi Tee, der seine Seele zu reinigen schien. Der Dampf stieg wie Magie in seine Nasenflügel. Es spürte sich wieder ein bisschen mehr. Doch als er erwachte, bemerkte er, dass er immer noch eingesperrt war. "Befreie dich!" sagte die Stimme und schüttete ein Glas mit trübem Wasser auf ein Blatt Papier. Wilhelm holte ein paar Buntstifte und nahm nahe dem Ofen Platz. Wie von selbst malte seine Hand Mandalas, deren Farbenpracht ihn aufzusaugen schien. Und er hängte sie an Plätze, an denen er oft vorbeikam. Sie waren ab jetzt sein Geleit. Er begann sich weiter einzurichten. Er baute einen kleinen Wasserfall und berührte die lebenden Steine, die ihm der Gleichgesinnte gegeben hatte. Dann begann er damit Holzfiguren zu schnitzen, Dschungeltiere, wobei ihm der Affe am besten gelang. Und er hatte endlich Zeit den Bildband mit dem Wald anzuschauen und zu fühlen, wie viel Geborgenheit von ihm ausging. "Deine Figuren sind wunderschön!" sagte die Stimme, die sich schon länger nicht mehr zu Wort gemeldet hatte. "Die Figuren gefallen den Kindern im Waisenhaus bestimmt!" Und Wilhelm spürte eine warme Welle in der Nähe des Sonnengeflechts.
"Geh ruhig öfter durch den schwarzen Tunnel," sagte die Stimme "ganz am Ende wird das Licht sein. In deinem Haus, das du mit Leben erfüllst. Die dunklen Geister werden keine Notwendigkeit mehr darin sehen, zu erscheinen!" Wenn er in den Spiegel schaute, erschrak er schon nicht mehr so, weil er instinktiv wusste, dass es vorübergehen würde. Der Eifer hatte ihn gepackt. Die Leidenschaft war anstelle seiner Schwermut und seines Kummers getreten. Erst jetzt nahm er den Zettel auf dem Boden wahr, den er vor einigen Tagen achtlos vom Tisch gefegt hatte. Nachhilfelehrer für die unteren Jahrgangsstufen wurden gesucht. Wilhelm verstand langsam. Solange er etwas tat, konnte er bleiben. Als er nach mehreren Tagen in den Spiegel sah, hatte er zum ersten Mal wieder einen Bezug zu sich. Er erkannte sich selbst, nach vielen Häutungen. Und als würde er es ahnen, gab die Tür zum Garten nach. Denn Liebe ist nachgiebig. Hier war es die Liebe zum Leben, die ihn im Leben hielt. Wilhelm pflanzte einen Baum und verwuchs mit ihm. Und es war ihm wieder möglich, seinen Pflanzen Wasser zu geben, den Blumen, die die Gnade des Regens gefunden hatten, die letzten Tage.